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10.04.2023Elke Jauk-Offner

Lebenslänglich

Mal Rivalen, mal Verbündete, mal innige Liebe, mal heftiger Konflikt – es ist ein ständiges Spiel der Kräfte: Die Beziehung unter Geschwistern gehört zu den längsten und intensivsten Bindungen im Leben. Eine Geschwisterbeziehung hat etwas Schicksalhaftes: Man kann sie sich nicht aussuchen und sie besteht über die Jahre auch ohne Kontakt weiter. Familienpsychologe Harald Werneck vom Institut für Entwicklungspsychologie der Universität Wien spricht im Interview über prägende Erlebnisse, Stereotypen und die Spielwiese für soziales Lernen. 


F A M I L I F E — „Indianer sind entweder auf dem Kriegspfad oder rauchen die Friedenspfeife. Geschwister können beides.“ Das soll Kurt Tucholsky einmal angemerkt haben. Ist dem so? Harald Werneck — Die große Nähe, die in der Regel zwischen Geschwistern herrscht, kann mit sehr ambivalenten Gefühlen verbunden sein. Gefühle intensiver Verbundenheit und Liebe können sich mit Rivalität, Streit und Sich- gegenseitig-Nerven abwechseln oder auch gleichzeitig erlebt werden. Man weiß viel übereinander, ist manchmal enger verbunden als erwünscht. 


 


Familie kann man sich nicht aussuchen. Wie prägend ist eine Beziehung unter Geschwistern?


H W — Das hängt von Faktoren ab wie vom Altersabstand oder ob die Geschwister beim selben Elternteil oder bei denselben Elternteilen aufgewachsen sind, oder nicht. Nachdem Kindheitserfahrungen sehr prägend sind und Geschwister oft diejenigen Menschen sind, mit denen in der Kindheit am meisten Zeit verbracht wird, kann man davon ausgehen, dass Geschwisterbeziehungen sehr prägend sind – etwa als Muster für andere und spätere soziale Beziehungen. Eine Besonderheit ist auch, dass Geschwisterbeziehungen unkündbar sind. Egal was passiert.


 


Wie wichtig oder eben nicht sind Geschwister überhaupt?


H W — In der Regel sind Geschwister diejenigen Menschen, die man am längsten kennt – von frühester Kindheit, ja ab der Geburt, bis zum Tod eines Bruders oder einer Schwester. Es sind auch diejenigen Menschen, denen man oft am nächsten ist. Emotional, aber teils auch räumlich – vor allem in der Kindheit, und oft wieder im fortgeschrittenen Alter, wenn beispielsweise eigene Partner verstorben sind. 

Streiten Geschwister wirklich so oft wie Eltern das häufig empfinden?


H W — Das Ausmaß an Streit und Rivalität hängt unter anderem vom Altersabstand, vom Geschlecht und von der Persönlichkeit ab, aber auch davon, wie Eltern mit den Kindern umgehen. Wer mehr Streit wahrnimmt und wie dieser erlebt wird, kann sehr unterschiedlich sein, zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschwistern, zwischen den Eltern. 


 


Sollten Eltern bei Konflikten eingreifen?


H W — Das hängt vom Konfliktaus- maß und vom Machtgefälle zwischen den Geschwistern ab: Wenn etwa der ältere Bruder die kleinere Schwester regelmäßig verprügelt, wird ein Eingreifen der Eltern nötig sein. Grundsätzlich sollte man sich als Elternteil aber so weit wie möglich aus Konflikten heraushalten und nur soweit eingreifen, etwa mit Lösungsvorschlägen, wie man es für nötig erachtet, damit kein Kind zu Schaden kommt oder leiden muss. Da braucht es eine gute Kenntnis der Kinder und das nötige „Fingerspitzengefühl“. Grundsätzlich bieten Konflikte mit Geschwistern eine ideale Spielwie- se für soziales Lernen, um etwa Lösungsstrategien auszutesten. 


 


Wie behandelt man Geschwister gleich oder ist das kein sinnvoller Anspruch?


H W — Alle Kinder, sogar eineiige Zwillinge, haben ihre eigene Persönlichkeit, individuelle Bedürfnisse, Wünsche, Fähigkeiten. Sie sind also nicht gleich. Insofern wäre eine Gleichbehandlung nicht zum Wohl aller und kann daher nicht das Ziel sein. Eltern sollten versuchen, allen Kindern in gleicher Weise gerecht zu werden, indem sie auf die individuellen Bedürfnisse möglichst gut eingehen. Das kann bei jedem Kind unter- schiedlich aussehen und ausgestaltet werden. 

Welchen Stellenwert haben getrennte Aktivitäten mit Geschwistern?


H W — Das hängt maßgeblich davon ab, was die Kinder wollen. Ein gesundes Mittelmaß zwischen gemeinsamen, verbindenden, dann aber auch getrennten Aktivitäten ist in der Regel anzuraten. Der passende Anteil hängt sicher vom Altersabstand ab. Je älter das größte Geschwisterkind wird, desto bedeutsamer und wichtiger für die Identitätsentwicklung werden soziale Interaktionen in der Peer- Gruppe. 


 


Gibt es „bessere“ Geschwister- Konstellationen als andere, etwa in Bezug auf das Alter oder das Geschlecht?


H W — Ein geringerer Altersabstand zwischen Geschwistern ist in aller Regel mit größerer Nähe verbunden, im positiven wie im negativen Sinn, denn so entsteht auch Rivalität. Bei einem großen Altersabstand können Kinder de facto auch eher als Einzelkinder beziehungsweise mit wenig Interaktion untereinander aufwachsen. Bei Schwestern wird häufig eine intensivere Geschwisterbeziehung beobachtet. Ein allgemein gültiges „Patentrezept“ für die ideale Geschwisterbeziehung gibt es nicht. Die nach außen hin gleiche Konstellation, etwa eine ältere Schwester und ein um drei Jahre jüngerer Bruder, kann in einem Fall zu einer als nahezu ideal erlebten Geschwisterbeziehung führen, im anderen Fall zum Gegenteil. 


 


Die Position des jüngsten, des mittleren, des ältesten Kindes – sie ist oft mit bestimmten Zuschreibungen verbunden, haben diese Berechtigung? 


H W — Diese stereotypen Zuschreibungen können Berechtigung haben, müssen es aber nicht. Die klassischen Klischees von „Erst- geborenen“, „Sandwich-Kindern“ oder „Nesthäkchen“ sind empirisch nicht haltbar und haben sich teils als Methodenartefakte und als unzulässige Verallgemeinerung erwiesen. Wer wir sind und wie wir sind, hängt nur zu einem sehr geringen Anteil von unserer Geschwisterposition ab. 


 


Wie kann sich die Geschwisterbeziehung in Erwachsenenjahren verändern?


H W – Im Erwachsenenalter liegt in der Regel der Fokus auf Partnerbeziehungen und der eigenen Familiengründung, die Geschwisterbeziehung gerät etwas in den Hintergrund. Interessanterweise wird die Geschwisterbeziehung im höheren und hohen Alter dann aber oft wieder bedeutsamer und es kommt wieder zu einer Annäherung – emotional, etwa durch die gemeinsame Familiengeschichte, manchmal sogar räumlich. 

Elke Jauk-Offner
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